Jogging by numbers


aus: Tiefer in den Wald hinein / Über das Laufen und die zwanghafte Vorstellung, das Ich müsse ein anderes werden, als es ist (Laufprotokolle)

Waldrand.

ICH: Die Zeit steht still. (passiert den Schlagbaum, der Weg ist matschig)
EIN KIND: (auf einem Fahrrad) Halt bloß dicht.
DAS ANDERE KIND: (sitzt auf dem Gepäckträger) Deine Schwester ist mir egal.
ICH: (setzt sich in Bewegung) Deine Schwester würde mich interessieren. (nimmt mäßiges Tempo auf) Das Ich ist eine Strudelbildung im Wasser. Dass es trotzdem zu etwas gut sein soll ...
DAS KIND AUF DEM SATTEL: Bieg ab!
DAS FAHRENDE KIND: Ich brauche keine Anweisungen.
ICH: Ich schon.

Der Himmel hängt tief.

ICH: Woran erkenne ich, dass es diesmal ist, dass ich laufe, und nicht letztes Mal? Das ist einfach. Letztes Mal hatte ich einen MD-Player dabei und ein Mikrofon. Ich habe jeden Gedanken laut ausgesprochen, um ihn am Ende abhören zu können.

Am Wegrand ein zertrümmertes Klavier.
Der herausgebrochene Resonanzboden mit den Saiten lehnt an einem Baum.

ICH: So etwas gibt es nicht. Ob ich träume?
Ich passiere den Graben, 128 Grad Länge, 27 Grad Breite. Ein Hund rennt seinem Herrn davon.
HERR: Bodo! Kommst du hierher –
HUND: (hört nicht)
ICH: (denkt) Wenn du ihn nicht erziehst, mit bloßen Worten ist da nichts getan.
Woran habe ich gedacht, beim letzten Mal? (überlegt) Nehmen wir an, ich wüsste es nicht mehr, wie könnte ich es mir in Erinnerung zurückrufen? (frohlockend) Nun bin ich kein Neuling. Ich würde mir ja nicht das Hirn zermartern. Ich würde mich entspannen, auf Durchzug stellen, in die Niederungen der unbewussten vegetativen Daseinform hinabsteigen, und dann, wenn, nur so, würde mir wieder in den Sinn kommen, woran ich dachte. (ungeduldig) Ja, und was dachte ich nun?
JOGGERIN: (begegnend) Hallo.
ICH: Hallo. (hebt die Hand)
JOGGERIN: (entfernt sich hinter ihm)
ICH: (hört sie stark atmen) Ja, heute ist es anstrengend. Das finde ich auch. Letztes Mal war es nicht anstrengend. Weil ich auf die Tonaufnahme fixiert war. (erinnert sich ungefähr) Guten Tag, habe ich gesagt, da bin ich wieder – und wusste im selben Moment: das wird aufgenommen. Wenn der Apparat diesmal funktioniert, wenn er auch beim Laufen funktioniert, wenn er trotz der durch das Laufen hervorgerufenen Vibrationen funktioniert. Guten Tag, ich bin´s, wie geht´s – und vielleicht hat sich das Gerät schon jetzt selbsttätig abgestellt! Auch das war zu hören: Guten Tag, ich bin´s, wie geht´s – und vielleicht hat sich das Gerät schon jetzt selbsttätig abgestellt! So war durch die spezielle Aufgabe des Tages meine Aufmerksamkeit gebunden, wie hätte mir die Anstrengung zu Bewusstsein kommen können? (verdrossen) Ich kann ja nicht alles mitkriegen! (ernst) Das sagt ja schon einiges aus. Über die Natur des Bewusstseins ... Jetzt habe ich nichts mehr, woran ich denken kann. Jetzt strengt es an, zu laufen ...

Ein Zeppelin am Horizont.

ICH: Wenn die Zeit in Wirklichkeit gar nicht voranschritte, verginge, uns unter den Händen zerrinnen würde, wäre deshalb irgendetwas anders? Das sind alles nur Vorstellungen. Dass sie still stände, wäre auch nur eine Vorstellung, aber vielleicht eine entlastende Vorstellung. Wir wären bereits gestorben, zum Beispiel. Wir erlebten alles noch einmal, von einem späteren zeitlosen Punkt aus. Natürlich, natürlich – was hieße schon später in einem solchen Zusammenhang ... (wütend) Alles ist jetzt, immer. Dass die Zeit wie ein Bilderbogen vor unseren Augen und Sinnen abgerollt wird, ist eine bildliche, durch nichts als wirklichkeitsgemäß zu erweisende Vorstellung. (beschleunigt, atmet stark) Die Zeit steckt in der körperlichen Anstrengung. Der keuchende Atem liefert den Beweis, dass etwas geleistet worden ist. Das ist die Vergangenheit. Und der zunehmend unabweisbare Impuls, stehen zu bleiben, verweist auf einen Moment, der in der Zukunft liegen muss. Das sind die elementaren körperlich erlebbaren Bedingungen für die abstrakte Vorstellung des Zeitstrahls. (traurig) Was gibt es da also zu rätseln? Da gibt es leider nicht viel zu rätseln.

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